77 Kindheiten (Roman)

N°2 Das Huhn ohne Kopf

Bremsen stechen nicht, sagt der Bienzli.

Der Buddli glaubt es nicht. Die ihn gestochen hat, die Bremse, hat an der Stelle auf seinem Arm eine Art Blase hinterlassen. Er hat gerieben, sich in den Arm gekneift, aufgekratzt, zugedrückt, mit dem Fingernagel in die Blase geschnitten, eine Flüssigkeit ist ausgeflossen.

Wespen spritzen Gift hinein, sagt der Bienzli. Die Bremse spritzt nichts, sie saugt das Blut. Ihr Rüssel ist viel gröber als der Rüssel der Fliege. Das verletzt die Haut. Deshalb die Blase. Das juckt.

Der Buddli sagt nichts. Der Buddli schaut auf seinen Arm. Der Bienzli setzt sich auf die kleine Gartenmauer an der Garagenausfahrt, zieht sein Hosenbein hoch und wartet.

Der Budli starrt ihn ungläubig an. Der Bienzli und die andern diskutierten weiter. Eine Bremse landet auf Bienzlis Bein. Alle schauen auf den Bienzli. Die Bremse sitzt zwischen Wade und Schienbein, nah am Knie. Der Bienzli lächelt.

Die Wespe ist der Essverderber. Sie fliegt in Kurven und Sprüngen, die du nicht vorhersehen kannst, um deinen Teller herum. Nur Papi traut sich, auf sie loszuhauen. Meistens haut er daneben. Bei dem schönen Wetter wäre es doch schade, nicht auf der Terrasse zu essen. Meine Schwester schreit auf und fuchtelt um ihren Kopf herum, weil eine Wespe um ihre Haare herumfliegt. « Tut doch nicht so », sagt Papi. Wir essen lieber drinnen, ohne Wespen.

Der Bienzli stöhnt leise auf, bewegt sein Bein ein bisschen, rührt sich nicht mehr, schmunzelt seinem Schmerz zu. « Sie hat neu angesetzt. » Er schaut uns an.

Die Bremse ist der Spielverderber. Du guckst zum Federball in den Himmel, du versteckst dich in der Forsithie, du fährst rückwärts auf deinen Rollschuhen: die Bremse setzt sanft auf, du bemerkst sie zu spät, sie hat dich schon gestochen!

« Schau! » raunt der Bienzli. Seine Hand klatscht auf die Bremse. Die Bremse fällt bewegungslos auf den Asphalt. «  Sie hat nicht gestochen, sondern gesaugt. » Auf dem Wadenbein ein  grosser roter Fleck.

« Mein Blut », sagt der Bienzli.

Der Bienzli ist der Beste im Quartier. Wie er den graugeschundenen Tennisball an seinem Hockeyschläger um das aus einem Holzharass bestehendem Tor herumführt, seinen Gegner mit unaufhörlichen und unvorhersehbaren Bewegungen ausspielt, das macht ihm keiner nach. Im Völki gewinnst du, wenn der Bienzli zum deinem Volk gehört. Er fängt Bälle ab, die scharf auf ihn knallen. Er weicht ihnen aus, ohne dass sie ihn berühren. Hockey spielen wir auf Rollschuhen auf der Strasse vor unserem Haus. Mit zwei Harassen, wenn genug Spieler da sind. Auf einem Harass mit Torhüter, wenn zwei sich ein Duell liefern. Der Bienzli ist unschlagbar. Auch wenn er mal verliert. Klopft seinem Gegenspieler auf die Schulter. Kommentiert gewieft.

Nur einmal verliert der Bienzli. Einer ist Torhüter, der Bienzli spielt im Duell gegen den Schmidli. Mein Bruder der Sportreporter am Strassenrand. « Der Schmidli rückt auf der linken Seite vor. Der Schmidli hält den Puck. Der Schmidli dreht sich um seine eigene Achse. Der Bienzli schlägt ins Leere. Der Schmidli dreht sich. Und Tor! Schlenzt den Puck ins Tor! Tor für den Schmidli! Ja, wieder ist es auf der linken Seite der Schmidli, der mit einem unwiderstehlichen Dribbling den Bienzli austrickst und zum Drei zu eins vorlegt. Ein Raunen geht durch das Publikum… «

Der Buddli trödelt herum. Ab und zu schaut er dem Spiel zu. Hätte lieber mitgespielt. Die Besten unter sich. Langweilig.

Das Ereignis schlägt wie ein Blitz ein. Ein Blitz in Zeitlupe: der Bienzli lässt seinen Schläger fallen, der Mäusebussard sticht auf die Maus herunter, der Bienzli im Flug, der Bienzli fällt auf meinen Bruder, wirft ihn auf den Rasen, springt ihm an die Gurgel und würgt ihn, boxt ihn in Schultern und Rippen und Bauch zischt und hagelt auf ihn ein. Das Ende der Welt. Der Buddli ist nicht da. Mein Bruder rennt heulend zu unserem Haus. Der Buddli ist schon dort. Mein Vater steht, wie aus dem Erdboden gestampft, vor seinem Arbeitszimmer neben der Haustüre. Meinen Bruder schütteln die Weinkrämpfe. Die Hände am Hals, liegt er gekrümmt auf dem eingelegten Teppich vor der Haustüre. Mein Vater neigt sich zu meinem Bruder. Die Tanne steht vor dem Haus. Der Bienzli steht am Strassenrand. Mein Vater geht auf den Bienzli zu. Der Bienzli geht auf meinen Vater zu. Hinter der Tanne stehen sie. Eingelegt im Raum zwischen der Tanne und der Haustüre, der Buddli. Weint! Der Bienzli! Die ruhige Stimme von meinem Vater. Weint! Der Bienzli. Mein Vater steht neben meinem Bruder. Der Stefan hat beim Hockeyspiel zwischen dem Bienzli und dem Schmidli den Sportreporter gespielt. Der Bienzli war im Rückstand. Der Bienzli spielte heute nicht so gut. Der Bienzli konnte durchaus akzeptieren, zu verlieren. Der Sportreporter kommentierte total einseitig. Der Sportreporter freute sich über Bienzli Schwächen. Der Sportreporter machte Bienzli herunter. Der Bienzli verlor. Die Nerven.

Wenn das Huhn ohne Kopf den Tod auspielt, verliert der Bienzli die Nerven nicht. Der Bienzli hat eine Hühnerfarm. Von überall und nirgends umgluckert zwischen den engen Reihen der hinter Gittern eingesperrten oft nur sehr halbwegs befederten Hühner geht der Budli hastig. Das Pouletfleisch unter dem Plastikfilm bewegt sich und Augen. Federn kleben zwischen den Gitterstäben. Jeden Moment kann der Buddli das Huhn ohne Kopf zu treffen. Lieber steht der Budli zwischen den grossen Säcken mit den Körnern und pickt Körner. Die Körner sind hart. Die Hühner sind nicht da. Es sind die Nerven, meint der Bienzli. Das Huhn ohne Kopf rennt um den Tod herum. Der Buddli sieht das Huhn ohne Kopf genau, wenn der Bienzli erzählt. Das Huhn ohne Kopf rennt hin und her, stösst gegen ein Fass, einen Holzhaufen, dreht sich im Kreis, klatscht gegen den Holzpflock, auf dem das Beil liegt. Auf dem Holzpflock der Kopf und das Blut. Mein Blut.